Trail-Bewertungen kastrieren den Mountainbikesport | Ride MTB

Trail-Bewertungen kastrieren den Mountainbikesport

Der Mensch braucht Bewertungssysteme. Alles wird bewertet, vom Hotel bis zum Rasenmäher. Auch der Mountainbikesport bleibt nicht verschont. Wege und Routen müssen heute nach ihrer Schwierigkeit exakt normiert werden, um bloss keine Überraschungen zu erleben. Thomas Giger sinniert in seinem Blog, warum das eigentlich dem Grundgedanken des Bikesports widerspricht. Der Reiz der Sportart liege doch genau darin, dass nicht alles plan- und vorhersehbar ist.

 
Drei Farben haben meine Kindheit geprägt: Blau, Rot und Schwarz. Es waren die Farben der Skipisten. Blau war für die Anfänger, Rot bedeutete Spass und die schwarzen Pisten waren eine Heraus­forderung. Diese Farbcodes verstand jeder und sie haben sich im Wintersport bis heute gehalten. Was bei Skipisten funktioniert, wird wohl auch für Bike-Trails passen! Als ich vor zwanzig Jahren die «Single­trail Maps» ins Leben rief, habe ich das Bewertungs­system vom Winter in den Sommer übertragen. Den Farb­kodex Rot, Blau, Schwarz versteht bereits jeder, statt auf einem Pistenplan nun halt auf einer Mountain­bike-Karte. Soweit alles klar.

Zu viele Faktoren

Ich merkte dann schnell: So einfach wie auf den Skipisten ist die Schwierig­keitsangabe für Singletrails nicht. Beispiels­weise ist so mancher Pfad über die Jahre von Schwarz in Rot über­gegangen. Nicht weil ihm eine Trail-Crew mit Pickel und Schaufel die Zähne gezogen hätte, sondern weil in der Zwischenzeit die Reifen dicker und die Federungen gross­zügiger geworden sind. Die Moun­tain­bike-Technik hat einen erheblichen Einfluss auf die Trail-Bewertung: Es ist nicht das Gleiche, eine Route mit einem Hardtail und schmalen Reifen oder mit einem grobstolligen Enduro-Bike unter die Räder zu nehmen. Auch Petrus redet bei der Trail-Bewertung ein gewichtiges Wörtchen mit. Regen verfärbt so manchen roten Trail in eine schwarze Route. Eine griffige Fels­platte wird bei feuchten Bedingungen spiegelglatt. Und dann wäre da auch noch die Fahrt­richtung: Ein Höhen­weg kann in eine Richtung flowig, in die andere geradezu unfahrbar sein. Und schliesslich stellt sich auch die Frage, ob man eine Route nach ihrer schwierigsten Stelle oder über ihre ganze Länge beurteilt. Alles doch nicht so einfach!

Lass dich doch überraschen!

Seit mittlerweile zwanzig Jahren diskutiere ich über die Bewertung von Single­trails mit der Erkenntnis: Eine objektive Angabe ist faktisch nicht möglich. Braucht es aber auch nicht. Bewertungs­systeme wie der Farbkodex der «Singletrail Map» oder die verbreitete Singletrail-Skala von S0 bis S5 können uns allenfalls eine Vorstellung vermitteln, was einen im Gelände erwartet. Von der Idee einer wissen­schaftlichen und verlässlichen Mess­methode sollten wir Mountainbiker uns indes verabschieden, weil sie eigentlich den Grundwerten der Sportart widerspricht. Unsere gesellschaftliche Absicherungsmentalität mag für viele im Alltag sinnvoll sein, doch eine Mountain­bike-Tour darf und soll auch in Zukunft noch ein kleines Abenteuer sein. Einer der Reize des Mountainbikesports ist es, dass nicht alles vorhersehbar und kalkulierbar ist. Die Bewertungs­systeme gaukeln uns eine Sicherheit vor, die wir eigent­lich gar nicht suchen.

 

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