MTB-Tourismus: Und täglich grüsst das Murmeltier… | Ride MTB

MTB-Tourismus: Und täglich grüsst das Murmeltier…

Murmeltiere

Was für die Weltpolitik gilt, ist auch im Mountainbikesport nicht anders: Die Geschichte wiederholt sich. Ein Blick zurück auf die letzten 30 Jahre zeigt, dass sich alle Mountainbike-Regionen stets nach demselben Muster entwickeln. Eine Aufstellung der neun Phasen, die faktisch alle Regionen durchlaufen.

Der Mountainbikesport ist eine junge Sportart, gut 30 Jahre hat sie erst auf dem Buckel. Das ist ein gutes Alter für einen Blick zurück. Und da zeigen sich bei der Entwicklung von Mountainbike-Regionen über die Jahre interessante Parallelen: Jede Tourismusregion, jede Stadt, jede Agglomerationsgemeinde durchläuft augenfällig die stets gleichen Phasen. Pioniere haben schon mehrere dieser Stufen hinter sich, während die Nachzügler den gleichen Prozess nochmals durchlaufen. Im Mountainbikesport wird offensichtlich immer wieder dieselbe Musik gespielt.

Es sind insgesamt neun Phasen auszumachen, und alle Regionen können erstaunlich genau einer solchen zugewiesen werden. Die Progressiven sind vorne in Phase acht dabei, haben aus den Erfahrungen der Vergangenheit gelernt und sich weiterentwickelt. Viele Regionen kommen aber auch nach drei Jahrzehnten Mountainbikesport nicht über Runde eins hinaus. Nach drei Jahrzehnten ist die Zeit reif, die Entwicklungsphasen des Mountainbikesports analytisch auseinander zu nehmen. Wer erkennt seine Heimat in welcher Stufe wieder?

Phase 1: Gleichgültigkeit

Mountainbiker werden in dieser Phase von Politik, Behörden, Bergbahnen oder Hotels weder wahr- noch ernstgenommen. Sie gelten als Randgruppe mit wenig Relevanz. Spezielle Infrastruktur ist nicht vorhanden und nicht geplant. Oftmals gibt es in dieser Phase aber lokale Mountainbiker, die an die Sportart glauben und mit viel Enthusiasmus versuchen, das Mountainbiken im Alleingang zu fördern. Unterstützung erhalten sie fast keine, werden aber auch nicht eingeschränkt oder behindert.

Beispiele: Aosta und weitgehend das gesamte Piemont befinden sich heute in dieser Phase. Diese Regionen verfügen zwar über ein gutes Wegnetz, doch von offizieller Seite ist die Sportart eine Nullnummer. In Aosta beispielsweise wird der Mountainbikesport einzig durch «Aosta Valley Freeride» vorangebracht.

Aosta Valley Freeride ist ein Exempel, wie einzelne Akteure alleine für das Mountainbiken einstehen.

Phase 2: Euphorie

In der Regel geht die anfängliche Gleichgültigkeit gegenüber Mountainbikern nahtlos in Euphorie über. Politiker und Touristiker sind plötzlich Feuer und Flamme, weil sie hier eine Profilierungsmöglichkeit sehen. Bei geringem Fachverständnis herrscht die Vorstellung, dass mit etwas Marketing-Budget der Sportart ausreichend gedient ist. Die Euphorie-Phase ist geprägt durch eine konzeptlose Goldgräberstimmung.

Beispiele: Lange stand Gstaad sinnbildlich für diese Phase. Die Region trat als Hauptsponsor eines internationalen Downhill-Teams in Erscheinung ohne auch nur annähernd über eine adäquate Mountainbike-Infrastruktur zu verfügen. Aktuell kann man weite Teile der Dolomiten dieser Phase zuordnen.

Der Auftritt von Gstaad als Hauptsponsors eines Downhill-Teams ohne eigene Downhill-Strecke gilt bis heute als Sinnbild für eine verirrte Marketing-Strategie.

Phase 3: Fehlplanung

Nun sind die da, die Mountainbiker, die man gerufen hat. Und damit auch die Erkenntnis, dass doch nicht alles so einfach ist. Es wird deshalb jemand beauftragt, der sich im Nebenamt dem Thema annimmt, in der Regel ein einheimischer Hobby-Biker. Es kommt dabei zum Mountainbike-Aktivismus der Marke Eigenbau ohne Strategie und Koordination. In der Regel führt dies wegen fehlendem Fachwissen und Konzeptlosigkeit zu Fehlplanungen. Das Resultat ist meist eine allgemeine Ernüchterung, immer wieder auch die Abkehr von der Sportart.

Beispiele: Das Südtiroler Vinschgau befindet sich in der Phase. Hier wurden Angebote geschaffen, die auf Shuttle-Fahrten basierten. Dadurch hat man sich in der Gravity-Szene einen Namen gemacht, ohne aber die Konsequenzen im Konflikt-Management und Trail-Unterhalt zu berücksichtigen.

Bike-Shuttles sind ein sichtbares Zeichen für erste Erfolge im MTB-Tourismus – sind aber ohne gesamtheitliche Strategie ein Bumerang

Phase 4: Verbote

Die Konsequenz aus der Fehlplanungs-Phase sind Konflikte und Schäden an den Wegen. Das ruft dieselben Personen auf den Plan, die in der Euphorie-Phase um die Mountainbiker buhlten. Nun rufen sie nach Bike-Verboten. Die Mountainbiker sind keine Chance mehr, sondern ein Problem, das es zu lösen gilt. Man muss sie kanalisieren und konzentrieren. Es werden Podiumsdiskussionen und runde Tische organisiert, die in der Regel ergebnislos enden.

Beispiele: In ganz Österreich ist die Einstellung verbreitet, den Mountainbikesport über Gesetze und Verbote zu regeln. Gleiches gilt für Champéry im Wallis, das in der Euphorie-Phase die Weltmeisterschaften organisierte, zehn Jahre später aber die höchste Bikeverbots-Dichte der Schweiz aufweist.

Die Anzahl der Verbotsschilder in Champéry spricht eine eigene Sprache und zeigt, wie schnell Euophorie in Verdruss drehen kann.

Phase 5: Flow-Trail

Das Überwinden der Verbots-Phase erfolgt oft in der Einsicht, Mountainbiker durch adäquate Infrastruktur besser steuern zu können. Will heissen: Trails bauen! Nicht selten sind Bergbahnen die treibende Kräfte dahinter, weil diese mittlerweile in den Mountainbikern eine Einnahmequelle erkennen. In urbanen Gebieten will man damit die Mountainbiker «kanalisieren». Gebaut werden oft Flow-Trails in der Vorstellung, damit Biker jeden Niveaus abholen zu können. Flow-Trails sind die eierlegende Wollmilchsau unter den Bike-Strecken.

Beispiele: Die Bergbahnen Österreichs sind in dieser Phase tonangebend, weil der Trail-Bau für sie die einzige Möglichkeit für legale Mountainbike-Angebote ist. In dieser Phase stehen aber auch viele urbane Gebiete wie die Stadt Zürich, die mit gebauten Strecken die Mountainbiker von den anderen Trails fernzuhalten versuchen.

Im Bau vieler Flow-Trails steckt die Ambition, mit dem Mountainbikesport eine breite Masse anzusprechen

Phase 6: Konzept

Nun gilts ernst! In der Region hat man die Bedeutung des Mountainbikesports erkannt und eingesehen, dass es mit einzelnen gebauten Strecken nicht getan ist. Damit steht erst einmal Schreibtischarbeit an. Es entstehen Strategiekonzepte, Masterpläne oder Nachhaltigkeitsstudien. Man beginnt aufgrund der gesamtheitlichen Sicht, alle Beteiligten in die Entwicklungsprozesse zu integrieren und holt sich nicht selten den Rat externer Fachpersonen. Es soll eine solide Grundlage geschaffen werden für alle weiteren Massnahmen.

Beispiele: Davos war im Jahr 2009 in dieser Lage und hat damals festgelegt, sich als Enduro-Destination zu positionieren und sich bewusst auf Könner auszurichten. Diesem grundlegenden Strategiepapier folgt die Region inklusive aller Beteiligten wie Bergbahnen oder Hotels bis heute.

Die Tafeln für Trail-Toleranz entstanden in Davos basierend auf einem gesamtheitlichen Nutzungs- und Strategieplan.

Phase 7: Infrastruktur

Nun folgt die Weiterentwicklung der Phase 6. Bisher wurden erst punktuell Mountainbike-Wege gebaut, in der Regel Flow-Trails. Neu ist die gesamtheitliche und grossflächigere Perspektive. Der Wegunterhalt wird professionalisiert mit sogenannten Trail-Crews. Die Pfade werden so modifiziert, damit sie auch hohen Mountainbiker-Frequenzen stand halten und flüssiger zu fahren sind.

Beispiele: Das Unterengadin mit Scuol befindet sich in dieser Phase und verbindet aktuell viele seiner Seitentäler für Mountainbiker. Dies erfolgt nicht durch neue Wege sondern durch die Weiterentwicklung des bisherigen, vielfach für Mountainbiker nicht fahrbaren Wegnetzes. Auch das Wallis im Ganzen ist in dieser Phase zu Hause.

Der flächendeckende Unterhalt von bestehenden Wegen ist eine der Grundlagen für ein nachhaltiges MTB-Angebot.

Phase 8: Overtourism

Die Attraktivität von Regionen führt zu einer derart hohen Nachfrage, dass die Infrastruktur an die Grenzen kommt. Bei den Bergbahnen entstehen lange Warteschlangen, die Hotelkapazitäten sind regelmässig ausgeschöpft und auf den Trails kommt es der puren Menge wegen vermehrt zu Nutzungskonflikten. Es geht nicht (wie in der Verbots-Phase) um einzelne Reklamationen sondern um eine physische Übernutzung der Infrastruktur. Es sind neue Modelle gefragt, da die bisherigen Strukturen nicht mehr funktionieren.

Beispiele: Führende Regionen wie Davos, Lenzerheide, Verbier oder Finale Ligure befinden sich in dieser Phase und müssen nun neue Modelle «erfinden», wie sie die Menschenmassen steuern können. Viele urbane Regionen sehen sich selber ebenfalls in dieser Phase, genau genommen sind sie aber noch in der Verbots- oder Flow-Trail-Phase.

Das Management der Besucherströme bei Bergbahnen oder auf Trails wird zur wichtigen Aufgabe bei erfolgreichem MTB-Tourismus. Im Bild die Lenzerheide im Juni 2020.

Phase 9: Überheblichkeit

Jetzt ist es geschafft! Der Mountainbike-Tourismus ist etabliert, die Betten voll, die Bergbahnen ausgelastet, der Rubel rollt. Der Erfolg durch die bisher durchlaufenen Phasen ist sicht- und spürbar. So verheissungsvoll und erstrebenswert dieser Abschnitt ist, er ist auch einer der gefährlichsten. Denn Erfolg führt nicht selten dazu, sich auf den Lorbeeren auszuruhen und allenfalls auch andere Themen in den Vordergrund zu rücken – es läuft ja von selber. Diese Phase birgt das grosse Risiko, wegen dieser Überheblichkeit im MTB-Sektor wieder um mehrere Phasen zurückgeworfen zu werden.

Beispiel: Der Kanton Graubünden läuft in der überregionalen Tourismusvermarktung sehenden Auges in diese Phase der Überheblichkeit. Man suhlt sich im erzielten Erfolg, klopft sich gegenseitig auf die Schultern und verliert die Dynamik, die zu dieser Leader-Position geführt hat. Durch den Erfolg im Mountainbike-Tourismus priorisiert man nun andere Themen und entzieht dem Mountainbike-Tourismus die nötige Dynamik – es läuft ja von selber!

Ausblick: Welche Phasen kommen als nächste?

Der Blick in die Glaskugel ist zwar heikel, trotzdem können einzelne Elemente jetzt schon ausgemacht werden, die künftig eine Rolle spielen werden. Zum Beispiel die Monetarisierung. Bis heute verdienen nur ganz wenige Firmen Geld mit den Mountainbikern. Das ist einer der grossen Unterschiede zum Skifahren, wo eine sehr breite Wertschöpfungsbasis besteht. Es wird aber auch um ökologische Fragen gehen. Wie reduziere ich den Impact des Mountainbike-Tourismus auf die Natur? Im alpinen Tourismus werden künftig nur ökologisch nachhaltige Konzepte eine Perspektive haben. Ein weiteres Element der nächsten Phase dürfte die Internationalisierung sein. Der Mountainbike-Tourismus ist heute stark auf den alpinen Heimmarkt ausgerichtet. Wird und soll man es schaffen, mit der Sportart ein weltweites Gästepotenzial anzusprechen, wie es zum Beispiel Surf-Destinationen geschafft haben? Solche Fragen werden über das nächste Kapitel des Mountainbikesports entscheiden.

Fazit: Jedem sein Süppchen!

Es ist verblüffend, wie exakt verschiedene Regionen einer dieser Phasen zugeordnet werden können. Alle durchlaufen das ewig gleiche Muster, und da stellt sich zwangsläufig die Frage: Wieso überspringt niemand eine Phase? Man könnte aus den Erfahrungen anderer Regionen lernen und müsste nicht dieselben Fehler wiederholen. Dem ist leider nicht so. Mit ein bisschen Sachverstand könnte beispielsweise die Verbots-Phase problemlos übersprungen werden. In der Realität muss aber jede einzelne Region die Erfahrung am eigenen Leib machen. Der Grund dafür ist, dass viele Entscheidungsträger nicht über den Tellerrand hinausschauen. Dass sie sich nicht mit anderen Gebieten auseinander setzen. Eigentlich etwas, dass in jeder anderen Branche üblich ist. Man nennt es «Benchmarking». Will heissen, sich mit anderen Angeboten auseinanderzusetzen und dabei die eigenen Produkte und Strategien zu hinterfragen. Fehler sind dazu da, um aus ihnen zu lernen. Dafür braucht man aber nicht selber stets die Ochsentour zu durchlaufen. Der Mountainbikesport wäre ein gutes Stück weiter entwickelt, wenn nicht jeder immer nur sein eigenen Süppchen kochen würde.

 

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