Fahrt wieder mal auf Schotterstrasse! | Ride MTB

Fahrt wieder mal auf Schotterstrasse!

Statt jedes Wochenende den schönsten Trails nachzurennen, sollten wir ab und zu wieder mal auf Schotterstrasse fahren. Denn das eröffnet ganz neue Perspektiven. Unser Autor hat die Probe aufs Exempel gemacht und ist mit dem berühmten ehemaligen St. Moritzer Kurdirektor Hans Peter Danuser von St. Moritz an den Comersee gefahren. Naja, fast.

Als ich um 7.20 Uhr eines schönen Septembermorgens bei Hans Peter Danuser auf der Terrasse stehe, ahne ich nicht, dass einer der härtesten Tage meines Bikesommers bevorsteht. Unser Ziel heute ist zwar ein ganzes Stück entfernt – bis zum Comersee will Hans Peter fahren. Aber meine beiden Mitfahrer (Hans Peter und seine Kollegin Ulli) sind im AHV-Alter und ich bin ziemlich gut in Form. Dass die beiden motorunterstützte Bikes fahren, habe ich wohl in meiner Euphorie über das kleine Abenteuer ganz verdrängt. So schlägt Hans Peter auf seinem klassischen Flyer gleich auf den ersten Metern Richtung Champfèr ein derart hohes Tempo an, dass ich nicht einmal im Windschatten richtig mitkomme und einige Male an mein Frühstück denken muss. Ich begreife sofort: Das einzige, was mich heute retten wird, sind häufige Fotopausen.

Erste Etappe: Den Seen entlang nach Maloja

Der Morgen ist frisch, gerade mal acht Grad zeigt das Thermometer an. St. Moritz ist von leichten Nebelwolken umhüllt. Bereits am Champfèrersee zeigt sich aber: Der Tag wird richtig gut – der Himmel über dem Morgennebel ist blau, so wie es sich fürs Oberengadin gehört. Vorbei am Silvaplanasee und Silsersee führt uns unsere Reise über Isola zum Malojapass. Während die anderen über das Naturschauspiel staunen, versuche ich mich bei jeder Fotopause etwas zu erholen. Durch das hohe Tempo meiner Mitstreiter und das ständige Auf und Ab der Strecke ist die Fahrt für mich ein kräftezehrendes Intervalltraining.

Das Büro auf dem Gepäckträger

Hans Peter Danuser fährt schon seit über 30 Jahren regelmässig von St. Moritz zu seinem Haus an den oberen Comersee. Heute zum ersten Mal mit zwei, statt mit vier Rädern. Das hält ihn nicht davon ab, auf seinem Gepäckträger das ganze Büro mitzunehmen. Mit seinen 69 Jahren ist er immer noch voll engagiert – als Verwaltungsrat der Flyer-Herzroute zum Beispiel – und referiert auf der ganzen Welt über Markenmanagement.

Zweite Etappe: Von Maloja ins Bergell und nach Chiavenna

Die zweite Etappe unserer Tour beginnt in Maloja auf der Strasse – eine Ausnahme auf der gesamten Strecke. In wenigen Minuten kurven wir elegant den Malojapass bis nach Casaccia hinab. Von dort verläuft die Strecke wieder abseits des Motorverkehrs. Für Mountainbiker gibt es bereits ab Cavril links der Maira einen Trail. Für uns «Lady- und Gentleman-Biker», wie Hans Peter zu sagen pflegt, geht die Reise auf Wald- und Schotterwegen durchs malerische Bergell weiter. Das Bergell ist eine total gegensätzliche Welt zu St. Moritz und dennoch die natürliche Verlängerung des Oberengadins. Es ist viel mehr als das Tal, das St. Moritz mit dem Valchiavenna und dem Comersee verbindet. Vorbei am Atelier von Alberto Giacometti, am Palazzo Castelmur und an Bäckereien mit köstlichen Kastanientorten fahren wir Richtung Süden. Je weiter wir hinab steigen, desto wärmer wird es. Die Temperaturunterschiede sind bestens an Hans Peters Outfit zu erkennen, das je länger, je knapper wird.

Arriviamo, Italia!

Kurz vor der Landesgrenze oberhalb Castasegna ist die Aussicht nochmals zum Geniessen. Zu meinem Erstaunen ist Hans Peters gesamter Gepackträger-Inhalt immer noch dort wo er war – trotz einigen holprigen Passagen auf der Strecke. Aber schliesslich ist Hans Peters Fahrtechnik wirklich fein. Wenn man dem Mann ein Enduro-Bike geben würde, er würde wohl viele Biker auf den Trails ziemlich alt aussehen lassen. Direkt nach dem italienischen Zoll unterhalb von Castasegna bringt uns eine Unterführung auf die „pista ciclabile“, den gut signalisierten, asphaltierten Radweg, der nach Chiavenna hinunter führt. Eine einzigartig pittoreske Strecke voller Italianità, schönen Winkeln, Häusern, Brücken, Crotti, Laubwäldern – Lebensfreude!

Dritte Etappe: Von Chiavenna ans «Mittelmeer»

Kein Aufenthalt in Chiavenna ohne Crotto-Besuch. So finden wir ein lauschiges Plätzchen, um die nötigen Kraftreserven mit Polenta, Bresaola, Costine, Gnocchetti und Pizzoccheri wieder aufzubauen: das Crotto Ombra gleich beim Bahnhof des Orts. Nach einigen Tellern Polenta und ein paar Gläsern Wein möchte ich eigentlich nur noch eines: eine Hängematte. Ich kapituliere deshalb vor der Weiterfahrt – während Hans Peter bereits die Radkarten vom Comersee studiert. Mit einem herzhaften «Wir sehen uns!» verabschiedet sich Hans Peter von uns, um bis zum Ziel in Olgiasca zu fahren. Wir hingegen nehmen das nächste Postauto, das uns ab Bahnhof Chiavenna wieder zurück ins Engadin bringt. Noch bevor wir aussteigen, erreicht uns Hans Peters SMS mit dem Fotobeweis des Zieleinlaufs: Hans Peter im Ziel auf der Terrasse seines Ferienhauses in Olgiasca. Seine Textbotschaft: «Hier beginnt das Mittelmeer!»

Eine kleine grosse Reise

«Das machen wir wieder!» Diese Erkenntnis ist uns noch am selben Tag klar. Vielleicht probieren wir das nächste Mal den Bergwanderweg von Maloja zum Fusse des Passes, obwohl er nicht wirklich fahrbar aussieht. Ab Cavril ist eine Weiterfahrt durch das Bergell auf Trails bis auf wenige Abschnitte möglich. Die Bergeller Touristiker möchten das Tal auch für Mountainbiker erschliessen, und das spürt man langsam. Ausserdem kreuzt der Schotterweg nach der Landesgrenze immer wieder Bergwanderwege, die sich für Biker als spassig herausstellen könnten. Und auch, wenn das Bergell und das Valchiavenna wohl nie zu vielfältigen Traildestinationen werden, sie sind – besonders in Kombination mit dem Oberengadin und dem Comersee – wirklich eine Reise wert. Wo sonst kann man an einem Tag ohne Bergbahn oder Shuttle 1500 Abwärtshöhenmeter, zwei Länder, zwei Sprachen, drei Klima- und Kulturzonen erleben? Im Vordergrund steht dabei vielleicht nicht das Trailvergnügen, sondern der Entdeckergeist. Auch die Polenta natürlich. Und das Reisen! Denn St. Moritz–Comersee ist keine gewöhnliche Tour, sondern eine kleine grosse Reise. Und solche sollten sich auch mal hartgesottene Mountainbiker zur Abwechslung gönnen. Das erweitert nicht nur den Horizont, es macht auch wirklich ganz schön viel Spass.
 
 
Der 69-Jährige Hans Peter Danuser hat von 1978 bis 2008 als Kurdirektor St. Moritz wie kein anderer geprägt. Der umtriebige «Mr. St. Moritz» wurde mit seinen Ideen dabei zur bekanntesten Tourismus-Ikone der Schweiz. Sein Buch «St .Moritz einfach – Erinnerungen ans Champagner-Klima» ist im September 2016 als E-Book und in aktualisierter zweiter Auflage erschienen und im Buchhandel erhältlich.
 


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