Viele Wanderer haben keine Ahnung – aber eine klare Meinung | Ride MTB

Viele Wanderer haben keine Ahnung – aber eine klare Meinung

Was hat ein Singletrail mit den Kommentarspalten auf Facebook gemeinsam? Keiner hat eine Ahnung, aber alle eine Meinung – die dann unreflektiert in die Welt getragen wird. Das ist vom Wanderer nett gemeint, der vor der «unfahrbaren» Abfahrt warnt – wird aber dann zum Problem, wenn in Tourismus und Politik Entscheidung gefällt werden von Personen, die vom Mountainbikesport zwar keine Ahnung aber eine Meinung haben.

Da könne man nicht runter fahren, warnt die rüstige Wandererin, das sei viel zu gefährlich mit einem Mountainbike. Sie meint das nicht böse sondern fürsorglich. Als Mountainbiker kennt man solche Szenen nur zu gut, und in der Regel tun wir es dann trotzdem: runter fahren. Die Wandererin meint es ja eigentlich nur gut. Aber wieso in aller Welt glaubt sie – die auf einem Fahrrad wohl kaum einen Meter gerade aus fahren kann – zu wissen, zu was ein Mountainbiker fähig und was zu gefährlich ist? Sie hat keine Ahnung, bildet sich daraus aber eine Meinung.

Eine ähnliche Szene hat sich in meinem Fall kürzlich auf der Almagellerhütte zugetragen. Ein Bergführer hat mir voller Überzeugung weis gemacht, dass die Abfahrt hinab nach Saas-Almagell gänzlich unfahrbar sei. Die Realität war indes eine andere: Die Abfahrt ist geradezu ein Prachtsstück für fahrtechnisch versierte Mountainbiker. Unten im Talboden angekommen habe ich mich damals gefragt, wie der Typ von oben auf der Hütte sich das Recht nimmt, die Lage zu beurteilen, ohne eine Ahnung von der Sportart geschweige denn von meinen fahrtechnischen Möglichkeiten zu haben.

Ähnliches entdeckt man immer wieder in Tourismusorganisationen und Gemeinde­behörden. Da sitzen Personen lieber im Bürostuhl als auf dem Velosattel, zeichnen sich aber verantwortlich für die lokalen Mountainbike-Routen. Das Resultat sind offizielle Streckennetze für Mountain­biker mit einem Asphaltanteil von 90 Prozent – so wie teilweise im Berner Oberland. Auch hier: keine Ahnung aber eine konkrete Vorstellung.

Relevanter wird das Ganze, wenn die Ahnungslosen an den Hebeln der Macht sitzen. So wie damals im Bericht der Rundschau im August 2016. Vor laufender Kamera wollten der Gemeinde­präsident und der Jagdinspektor den Mountainbikern die Abfahrt von der Augstmatt zum Brienzersee untersagen – weil das zu gefährlich sei. Durchsetzen wollten sie dies mit einer selbstgebastelten Verbots­tafel. Die beiden sind beim Thema Mountainbike ganz offensichtlich fernab der Realität. Ähnlich wie die rüstige Wandererin von zuvor, bloss sind die Absichten nun nicht fürsorglicher Natur. Der Gemeinde­präsident und der Jagdinspektor haben vom Mountainbikesport keine Ahnung – aber eine Meinung.

Die Bergsteiger haben einst eine ähnliche Entwicklung durchlaufen. In den Anfangjahren der Sportart wollte die lokale Bergbevölkerung den Pionieren aus England vorschreiben, was man am Berg kann, darf und soll. Vom Bergsteigen hatten die Einheimischen damals keine Ahnung. Aber eine Meinung. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis die Bergsteiger vollends akzeptiert waren. Für mich sind die Bergsteiger bis heute ein skurilles Volk. Ich kann nicht verstehen, warum man die Eiger­nordwand hochklettert. Warum man am Mount Everest Schlange steht. Warum man am Seil über Gletscher marschiert. Ich habe vom Bergsteigen keine Ahnung. Aber wenigstens habe ich nicht auch noch eine Meinung.

 

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