Sind 29er die besseren Bikes? | Ride MTB

Sind 29er die besseren Bikes?

Der Fahrradjahrgang 2012 schickt sich an, ganz im Zeichen der Laufradgrösse zu stehen. Nicht nur in Wettkämpfen kämpfen Athleten mit Rädern im 650b- und 29er-Format um Podestplatzierungen. Auch in Schweizer Bikeshops schaffen sich die neuen Räder einen eigenen Marktanteil. Ride hat mit Roland Abächerli, dem Leiter des Giant Swiss SR Suntour Teams, über die Erfahrungen mit 29er-Bikes gesprochen.

Das 29er-Thema hat Roland Abächerli über den Rennsport erreicht. Denn Abächerli arbeitet für die Komenda AG, dem Schweizer Giant-Importeur und hat für diesen Arbeitgeber das Giant Swiss Team aufgebaut, das heute unter dem Namen Giant Swiss SR Suntour Team als Elite-Profi-Mannschaft aktiv ist. «Als ich im Jahr 2000 den Mountainbike World Cup gefahren bin, sind plötzlich Athleten auf 29er-Bikes von Gary Fisher aufgekreuzt. Wir haben das bloss kritisch begutachtet und dem Geschehen nicht weiter gross Beachtung geschenkt. Die Fisher-Fahrer haben auch nicht beachtenswerte Resultate auf diesen Bikes herausgefahren. In den Jahren 2005 und 2006 hat Sven Nys vom Quersport in den Bike-Sport gewechselt und er ging mit einem 29er auf die Rennstrecke. Dann machten in der Bike-Szene die ersten Gerüchte die Runde, dass die grossen Räder schnell machen», so der Teammanager Abächerli.  

Zuerst: die Enttäuschung
Erst ab dem Jahr 2010 machte der 34-jährige Abächerli eigene Erfahrungen mit dem neuen Laufradformat. Die ersten Testfahrten seien wenig positiv ausgefallen, «Ich bin Race-Hardtails mit knapp 9 Kilogramm Gewicht gewohnt, das erste 29er-Alu-Hardtail war bescheiden ausgestattet und mit über 11 Kilos auf der wirklich trägen Seite. Mein erster Fahreindruck war gar nicht gut, aber ich hatte auch nicht Äpfel mit Äpfeln verglichen».  

Und dann das Aha-Erlebnis
Es musste etwas Leichtes her, um das neue Format artgerecht zu testen: So hat Abächerli 2011 einen der ersten Giant 29er-Carbon-Hardtail-Rahmen mit leichten Laufrädern aufgebaut. «Mit diesem 9.3-Kilo-Bike erfolgte das Aha-Erlebnis, das war überraschend gut, ich fühlte mich perfekt wohl. Und zwar wohl im Bike, nicht auf dem Bike, so stimmig war Fahrposition- und Gefühl».  

Mit diesen Eindrücken ausgestattet wollte der 29er-Neuling wissen, wie es um die Geschichte dieser Bikes steht: «Der Zubehörproduzent WTB produzierte 1999 einen grossvolumigen Bike-Reifen, der auf einer 28-Zoll-Felge montierbar war. Es gab derzeit aber für diesen Reifen keine ausreichend stabilen Felgen oder passende Rahmen wie Gabeln, um dem Stollenpneu mit grossem Umfang im Gelände die Sporen zu geben. Auf Tourenvelo-Felgen hatte dieses Laufrad im harten Gelände deutlich Limiten von der Steifigkeit her, man erkannte aber bereits, dass eine grösseres Laufrad im Gelände Vorteile bringen kann. Gary Fisher hat – nach seiner Bike-Pionier-Rolle in den Siebziger Jahren – auch sehr früh beim 29er Frischluft geschnuppert und begonnen, Rahmen für diesen neuen Standard zu produzieren. Zur Jahrtausendwende war es aber noch weit zu früh für den Durchbruch der 29er. Einen grossen Meilenstein hat Gary Fisher im Jahr 2005 gesetzt, indem er Rock Shox überzeugte, eine 29er-Reba-Gabel zu fertigen. Somit kam eine erste wertige Federgabel auf den Markt und die USA übernahmen eine Vorreiterrolle, da dort im Hardtail-Bereich das 29er-Format auf dem Vormarsch war. Gemäss aktuellen Markteinschätzungen erreichten im Jahr 2011 in den USA die 29er-Bikes über 70 Prozent Marktanteil bei den Hardtails».  

Und Abächerli kennt die Entwicklungen im Race-Bereich: «Im Jahr 2011 konnte dann im Rennsport der Durchbruch der 29er gefeiert werden, Jaroslav Kulhavy erklomm auf einem 29er-Fully-Bike den Spitzenpodestplatz der Crosscountry-Biker an der Mountainbike-WM in Champéry».  

Roland Abächerli, warum dauerte der Durchbruch der 29er so lange?
Ja, das dauerte mindestens zehn Jahre, von 2000 bis 2010. Der Markt war einfach noch nicht reif dazu. Lange fehlten für den neuen Standard leichte und stabile Laufräder, passende Reifen, optimierte Rahmen, passende Federgabeln und die richtigen Übersetzungen.  

Warum die Bezeichnung 29er?
Geht man auf die sogenannten Ertro-Normbezeichungen, dann bezeichnet das Mass 559 eine 26er-Felge mit einem Felgenschulterdurchmesser von 559 Millimetern. Eine 28-Zoll-Felge beispielsweise eines Rennrads besitzt das Ertro-Mass 622 – und teilt diese Dimension mit einer 29er-Felge. Somit hat eine 28er- und 29er-Felge den selben Felgenschulterdurchmesser von 622 Millimetern.   Mit einem grossvolumigen Bike-Reifen, der auf eine 29er-Felge, die ja vom Durchmesser eigentlich eine 28-Zoll-Felge ist, ergibt das jedoch einen wesentlich grösseren Radumfang im Vergleich zu beispielsweise einem 28-Zoll-Rad mit Rennradbereifung. Der Gesamtdurchmesser und der Umfang ist beim grossvolumigem Mountainbike-Pneu auf einer 28 Zoll oder 622er-Felge so gross, dass man grosszügig auf 29 Zoll aufgerundet hat. Dieses Mass entspricht keiner rechnerischen und logischen Exaktheit, hat sich aber im Biker-Jargon voll eingeprägt. Dazu kann der effektive Radumfang in Abhängigkeit von Felge, Luftdruck und Fahrergewicht immer leicht variieren.  

Es ist weiter möglich, auf eine 29er-Felge beispielsweise einen 28-Zoll Schwalbe Marathon-Alltagsreifen aufzuziehen. Will man auf ein 29er-Laufrad schmale Bereifung montieren, ist jedoch abzuklären, wieviel Druck die Felge aushält, aber theoretisch ist ein Rennvelopneu auf ein 29er-Laufrad montierbar.  

 

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Was bringen grössere Räder?
Grössere Räder rollen leichter über Hindernisse. Der Aufrollwinkel wird mit dem grösseren Rad flacher. Gehe ich mit meiner Tochter auf dem Like a bike-Laufrad in den Wald, so stellen für sie Wurzeln grosse Hindernisse dar, während mein Erwachsenen-Bike einfach darüber hinwegrollt. So ist auch das Verhältnis zwischen 26 und 29-Zoll, der Aufprallwinkel ist beim 29er-Rad günstiger. Man kann plakativ auch sagen: Grössere Räder machen Hindernisse kleiner.  
 

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Und: Grössere Räder und somit Reifen haben eine grössere Berührungsfläche mit dem Untergrund. Und daraus resultiert mehr Traktion. Der Reifen greift besser, beim Beschleunigen wie auch beim Bremsen, auch in Kurven. Auch der Rollwiderstand ist durch den grösseren Radumfang geringer.
 

Die grösseren 29er-Räder bringen mehr Fahrstabilität bergab durch die grössere Rotationsmasse.

Für die Downhill-Eigenschaften ist wichtig: Größere Räder beschleunigen die Abfahrt. Die grösseren Räder bringen mehr Fahrstabilität bergab durch die grössere Rotationsmasse. Insbesondere auf Schotterstrassen aber auch in ruppigen Abfahrten macht sich die höhere Laufruhe gut bemerkbar.
 

Bei gleicher Höhe des Tretlagers, ab Boden gemessen, ist beim 29er das Tretlager gegenüber einem 26er-Bike tiefer unterhalb der gedachten Nabenachse. Der Fahrer sitzt dadurch mehr «im» Rad. An steilen Anstiegen tendiert das Vorderrad eines 29er daher deutlich später zum Steigen, in steilen, technischen Abfahrten hat der Fahrer spürbar später das Gefühl, über den Lenker «abzusteigen».

Gibt es den idealen 29er-Rahmen?
Die Vorteile der grossen Laufräder kommen zum Tragen, wenn die Distanz vom Boden zur Mitte des Tretlagers im Bike-Rahmen identisch ist zum 26er-Bike. Aufgrund der anatomischen Voraussetzungen des Fahrers ist die Distanz von Mitte Tretlager bis Satteloberkante baugleich zum 26er-Bike. Dank der grossen Räder rutscht der Radmittelpunkt zwar nach oben, aber dank gleich tiefem Tretlager ergibt sich eine zentrale Position des Bikers innerhalb des Velos – ein tiefer Schwerpunkt im Verhältnis zu den grösseren Räder ergibt ein interessantes Fahrgefühl, das bergauf wie bergab viel Sicherheit vermittelt. Zudem zeichnet sich ein gut konstruiertes 29er- Bike durch einen kurzen Radstand aus, der nur unwesentlich länger ist als bei einem 26er-Bike.  Ein von 26- auf 29-Zoll «aufgeblasenes» Bike kann hingegen nicht zufriedenstellend funktionieren, da dann auch der Tretlagerbereich höher wandern würde.  

Haben 29er Nachteile?
Ein 29er-Bike ist schlicht schwerer, da aufgrund der grösseren Dimensionen «mehr Fleisch am Knochen ist» - schon nur das Plus an Gummi am Reifen macht das Laufrad schwerer und träger. Auch die Gabel ist «länger», damit schwerer und meist etwas weniger steif. Das Resultat ist aufgrund des Plus' an Grösse ein höheres Bike-Gesamtgewicht. Auf engen, winkligen Strecken, die viele Antritte erfordern kann ein träges Laufrad einen Nachteil darstellen, da es mehr Energie einfordert, um beschleunigt zu werden.  

Sind 29er nur für grosse Fahrer?
Jaroslav Kulhavy ist mit 1.90 Körpergrösse sicher prädestiniert für ein 29er-Bike. Doch die Laufradgrösse hat für mich nichts zu tun mit der Körpergrösse. Es kommt einzig auf die Konstruktion des Rahmens darauf an, wie wohl man sich auf einem Rahmen fühlt, unabhängig von Körper- und Radgrösse. Bei kleinen Rahmen, in Small oder X-Small-Dimensionen, sind die Konstrukteure gefordert, die grossen Räder unterzubringen. So sind speziell bei kleinen Rahmen kurze Steuerrohre wichtig, um die Lenkzentrale nicht in die Höhe wachsen zu lassen. Gerade kleine Frauen fahren oft mit 29er Bikes im XC-Weltcup.  

Welche Schaltungs-Übersetzungen sind passend für 29er?
Durch das bessere Abrollverhalten und die höhere Traktion bringt der Fahrer mehr Watt aufs Rad. Bei uns im Giant Swiss SR Suntour Team kommen dadurch die identischen Übersetzungen bei 26- und 29er-Radgrössen zum Einsatz (28/40 x 11-36). Ausserhalb des Rennsports ist es bei den 29ern wichtig, die kleinen Kränze um zwei Zähne anzupassen. Eine Kassette mit 36 Zähnen passt optimal zu einer 2x10 Kurbel mit einem 24 oder 26er als kleinem Kettenblatt.

Wie wichtig ist das Laufradgewicht?
Ob eine XT- oder eine SLX-Gruppe am 29er prangt ist nicht so wesentlich wie leichte Laufräder. Denn damit der Fahrspass der grossen Räder zum Tragen kommt, sind leichte Laufräder enorm wichtig. Je leichter die aussen rotierende Masse am Laufrad ist, desto spritziger und spassiger fährt sich ein Bike. Das ist beim 26-Zöller so, doch beim 29er scheint diese Regel noch viel wichtiger. Ein Fachhändler kann sich klar von der Konkurrenz abheben, wenn er spezielle Laufräder und dadurch einen Mehrwert anbietet. Wir machen in unserem Team sehr gute Erfahrungen mit den Laufrädern von NoTubes. Wir fahren 29er-Laufradsätze mit 1430 Gramm Gewicht, die Räder sind dazu topsteif. Auch für schwere Fahrer gibt es mittlerweile 29er-Felgen, die ausreichend stabil sind.  

Für welche Einsatzbereiche sind 29er nicht geeignet?
Im Downhill und Freeride sind diese Laufräder derzeit zu gross, um ein Bike mit mehr als 140 Millimetern Federweg zu konstruieren. Doch die Ingenieure schlafen nicht, denn 29 und 26 Zoll geteilt durch zwei ergibt 27.5 Zoll... Im langhubigen Bereich ist dieses Format in den Denk- und Entwicklungsabteilungen der Hersteller ein grosses Thema.

www.giant-swiss-srsuntour.ch
www.giant-bicycles.com
www.komenda.ch