Lukas Schneller: «Wir versuchen die Quadratur des Kreises» | Ride MTB

Lukas Schneller: «Wir versuchen die Quadratur des Kreises»

In keinem anderen Land sind so viele Mountainbiker mit dem Zug unterwegs wie in der Schweiz. Das dichte Liniennetz und der unkomplizierte Veloselbstverlad machen die SBB zum attraktiven Tourenpartner. Nun kommen die Bundesbahnen an ihre Kapazitätsgrenzen. Lukas Schneller, Produktmanager Kombinierte Mobilität bei den SBB und damit zuständig für den Veloselbstverlad, erläutert im Gespräch die Absichten des Bahnunternehmens.

Ride: Die SBB muss beim Veloselbstverlad während kurzen Perioden einer enormen Nachfrage gerecht werden. Wie geht sie damit um?
Schneller: Es ist wie die Quadratur des Kreises anzustreben. Für uns ist aber klar: Velofahrer sind wichtige Kunden, und der Veloselbstverlad ein zentrales Angebot. Doch die Kapazitätsfrage ist effektiv eine Krux. Wir haben gemessen, dass übers ganze Jahr gesehen etwa fünf Prozent aller Velohaken ausgelastet sind. Gleichzeitig haben wir auf einzelnen Strecken an 10 bis 20 Tagen pro Jahr teilweise massive Kapazitätsengpässe beim Veloselbstverlad. Und auch hier sind es nur einzelne Zugsverbindungen am Morgen und am Abend. Dagegen ist es wiederum verständlich, dass wir unser Angebot aus betriebswirtschaftlichen und vor allem betrieblichen Gründen nicht alleine auf diese Nachfragespitzen ausrichten können. So können wir beispielsweise die Anzahl der Velohaken pro Zug nicht nach diesen Spitzentagen dimensionieren. Eine Erhöhung der Veloplätze geht immer zu Lasten der Anzahl Sitzplätze.

Ergreift die SBB Massnahmen, um diese Spitzen zu brechen?
Wo möglich  hängen wir bei den Zügen, wo wir Kapazitätsengpässe voraussehen, Zusatzwagen mit Velohaken an.  Aber auch hier sind wir begrenzt. So gibt beispielsweise die Perronlänge an Bahnhöfen vor, wie lange ein Zug sein kann. Und an Spitzentagen ist nicht selten sowieso das ganze verfügbare Rollmaterial im Einsatz.

Die SBB hat neues Rollmaterial für das Jahr 2014 angekündigt. Was darf der Velofahrer hier erwarten?
Mit dem neuen Fernverkehr-Doppelstöcker erreichen wir eine Verdoppelung, ja fast eine Verdreifachung der bisherigen Selbstverlad-Kapazitäten in Doppelstock-Zügen. In jedem Wagen wird es zwei Veloplätze haben, auch in jenen der ersten Klasse. Da tragen wir unter anderem der Tatsache Rechnung, dass immer mehr Erstklass-Passagiere ein Fahrrad dabei haben.

Spielten die Velokapazitäten bei der Rollmaterialbeschaffung überhaupt eine Rolle?
Ja, eine wichtige Rolle sogar. Um die Bedürfnisse der Velofahrer zu erfassen, sind wir in engem Kontakt mit ProVelo, mit welcher wir uns halbjährlich treffen und austauschen. Wir kriegen von ihnen gute Inputs. Teilweise können wir Vorschläge umsetzen, andere sind nicht realisierbar. Wir haben ProVelo auch zur Besichtigung des Prototypen des neuen Doppelstockwagens im Massstab 1:1 eingeladen. Dort konnten sie  uns realitätsnah nochmals Änderungswünsche mitteilen. Man muss aber auch sehen: Der Veloselbstverlad ist bei der Rollmaterial-Dimensionierung einer von vielen Ansprüchen. Die verschiedenen Anspruchsgruppen werden zahlreicher und die individuellen Forderungen nicht kleiner. Ein Zug ist aber ein platzmässig begrenztes Gefäss.

Viele Velofahrer trauern den grossen Gepäckwagen von einst nach. Wieso gibt es diese nicht mehr?
Es gibt sie noch immer. Auf der Gotthard-Linie sind sie zum Beispiel bei den zweistündlichen Interregio-Zügen weiterhin im Einsatz.

Aber der Gepäckwagen ist ein Auslaufmodell?
Das stimmt. Es ist aber auch so, dass heute viel weniger Gepäck transportiert wird. Und da wir am Bahnschalter auch Fluggepäck annehmen, dürfen Gepäckabteile aus Sicherheitsgründen nicht mehr frei zugänglich sein. Das ist bei den «alten» Gepäckwagen auf der Gotthard-Route der Grund, warum  diese Abteile  für den  Veloselbstverlad nicht immer genutzt werden dürfen. Hier haben wir im Hinblick auf die Saison 2012 eine Verbesserung erwirkt, und wir versuchen an Spitzentagen wenn immer möglich auf diese Sicherheits-Gepäcktransporte zu verzichten und die Sicherheitsabteile zu öffnen.
Es gibt noch einen anderen Grund, warum diese Gepäckwagen nicht mehr überall eingesetzt werden. Sie sind relativ alt und nicht «kernnetztauglich». Das heisst, man darf mit ihnen nicht Geschwindigkeiten von bis zu 200 Kilometern pro Stunde fahren. Deshalb können wir sie unter anderem auf der Lötschbergroute nicht einsetzen.

Vor etwas mehr als einem Jahr hat die SBB die Preise für den Veloselbstverlad erhöht. Wieso müssen Velofahrer mehr bezahlen für eine vergleichsweise schlechtere Leistung bei der Kapazität?
Beim Veloselbstverlad haben wir seit dem Jahr 1998 die Preise nicht verändert. Das waren immerhin zwölf Jahre. Den Vorwurf der „schlechteren Leistung“ muss ich zurückweisen: Es hat Verbesserungen gegeben, die den Velokunden allenfalls nicht so offensichtlich aufgefallen sind. Der Geltungsbereich für den Velotransport wurde in diesen zwölf Jahren kontinuierlich ausgebaut. So sind die Velotageskarte und der Velopass heute zum Beispiel auch auf allen Postautolinien der Schweiz mit Velokapazität gültig. Zudem wurde der Fahrplan in dieser Zeit massiv und kontinuierlich ausgebaut. Wir haben deutlich mehr Verbindungen und viel mehr Züge. Und dies in 99 Prozent der Fälle auch immer mit der Möglichkeit des Veloselbstverlades. All diese Aspekte rechtfertigen die Preiserhöhung.

Für Kinderwagen braucht man nichts zu bezahlen. Trotzdem kann es vorkommen, dass bei einem vollen Zug einem Velofahrer die Fahrt verweigert wird, obschon er für sein «Gepäckstück» bezahlt hat. Ist das nicht ungerecht?
Wir sind uns bewusst, dass hier ein Spannungsfeld besteht. Vielleicht ist es aber auch eine gesellschaftliche Tendenz, sich und seine Ansprüche in den Vordergrund zu stellen anstatt miteinander zu sprechen und eine verträgliche Lösung zu suchen. Dass wir einem Velofahrer die Fahrt verweigern, ist aber sehr selten. Wie bereits erwähnt steigen die verschiedenen Ansprüche und teilweise widersprechen sich diese. Den Velofahrern stellen wir mit den Haken eine spezifische Infrastruktur zu Verfügung, das ist aussergewöhnlich.

Das Tessin ist heute für Velofahrer mit Selbstverlad nur mühsam zu erreichen weil auf der Gotthardlinie entweder ICN mit Reservationspflicht oder Cisalpino-Kompositionen ohne Velotransport verkehren. Haben die Touristiker da nie protestiert?
Nein, meines Wissens nicht. Aber wir sind uns dieser Problematik bewusst zumal es eine der klassischen «Velolinien» ist. Der neue Doppelstöcker soll hier zu einer Verbesserung führen. Zudem sind wir zur Zeit damit beschäftigt, neues Rollmaterial für internationale Linien mit rund zehn Veloplätzen pro Zug zu beschaffen. Es ist geplant, dass dieser neue Zug auch im Binnenverkehr zum Einsatz kommt. Beides sollte eine Verbesserung auf der Gotthardlinie bringen.

Gibt es eine übernationale Zusammenarbeit der Eisenbahnen in Bezug auf den Velotransport?
Im grenzüberschreitenden Veloselbstverlad ist die SBB sicher führend und weist den Velofahrern am meisten Aufmerksamkeit zu. Es gibt aber in dieser Beziehung keine verbindlichen Absprachen mit den benachbarten Bahnunternehmen. Wenn der ausländische Partner das Rollmaterial für die Verbindung stellt, sind wir bloss Bittsteller. So verfügt zum Beispiel der neue Railjet der Österreichischen Bundesbahnen, welcher bis nach Zürich fährt, aktuell über keine Möglichkeit des Veloselbstverlads. Das finden wir schade, können aber nichts machen. Dafür hat der TGV, der in die Schweiz fährt, auf unseren Druck hin unterdessen Velohaken. Beim Rollmaterial der SBB gibt es grundsätzlich immer die Möglichkeit des Veloselbstverlades.

International ist die SBB führend. Aber im Inland sind die Privatbahnen wie die Rhätische Bahn oder die Matterhorn-Gotthard-Bahn wesentlich velofreundlicher?
Gerade diese beiden Bahnen sind touristische Bahnen. Wir müssen hingegen mit dem gleichen Rollmaterial Berufs- wie Freizeitverkehr abdecken. Dieses Spannungsfeld ist bei uns viel ausgeprägter. Dazu fahren wir deutlich schneller als diese Privatbahnen, was wiederum zu höheren technischen Anforderungen führt. Und ich wage zu behaupten, dass es für kleine Bahnunternehmen einfacher ist, kurzfristig zusätzliches Rollmaterial einzusetzen als für die SBB.

Nochmals zurück zur Lötschberglinie. Auf ihr herrschen heute wohl die grössten Kapazitätsprobleme. Bei dieser Nachfrage müsste die SBB den 10-Minuten-Takt einführen...
Änderungen am Fahrplan sind sehr schwer möglich. Es ist unmöglich, während einer kurzen Zeit den Takt massiv zu erhöhen. Vielmehr legen wir den Passagieren nahe, die Belegungsprognose des Fahrplans zu betrachten und auf weniger stark frequentierte Züge auszuweichen. Diese Belegungsprognose bezieht sich zwar auf die Sitzplätze, gibt  den  Velofahrern mit Selbstverlad aber einen guten Anhaltspunkt. . Diese Prognose wird bei den Fahrplänen im Internet oder den Mobil-Applikationen angezeigt.

Ein Ausblick: Wie lange gibt es die, für Velofahrer lästigen IC-Neigezüge noch?
Die gibt es noch eine Weile, schliesslich sind diese Züge noch nicht so alt.. Aber wir kennen das Problem der Reservationspflicht. Diese können wir weder aufheben noch gratis machen, da die Platzverhältnisse extrem eng sind. Doch wir wollen hier die Möglichkeit anbieten, die Reservation online vornehmen zu können, also am Computer oder direkt am Mobiltelefon. Diese Änderung wird aber noch nicht in dieser Saison umgesetzt werden können. Es zeigt aber, dass uns die Velofahrer am Herzen liegen und wir auf der Suche nach der Quadratur des Kreises pragmatische Lösungen herbeiführen müssen.