Emilie Siegenthaler: «Downhill ist ein bisschen zu krass für Frauen» | Ride MTB

Emilie Siegenthaler: «Downhill ist ein bisschen zu krass für Frauen»

Emilie Siegenthaler ist die unbestritten stärkste Schweizer Downhillerin. Im Gespräch mit Ride blickt sie auf ihre Junioren-Zeit als Cross-Country-Fahrerin zurück, analysiert den heutigen Downhillsport und kommentiert ihren vielbetrachteten Auftritt im Schweizer Fernsehen.

Emilie, du hast deine Karriere als Cross-Country-Fahrerin begonnen. Wie bist du überhaupt zum Mountainbike gekommen?
Ich bin lange Mountainbike gefahren, ohne Rennen zu bestreiten. Mit drei, vier Jahren war ich zum ersten Mal auf dem Bike. Wir sind viel gefahren mit meinem Vater. Meine Grosseltern wohnen bei Montpellier in Südfrankreich. Dort habe ich begonnen, richtig Mountainbike zu fahren. Das ist ein sehr reizvolles Gebiet. Man kann dort geile Touren fahren, auch technisch anspruchsvoll. Dort hatte ich auch meine ersten Stürze (lacht).

In welchem Alter bist du deine ersten Rennen gefahren?
Vielleicht mit zehn. Aber nur eines. Mein Vater (Nicolas Siegenthaler) war Teamchef bei Scott Schweiz und ich bin immer mitgegangen. Einmal bin ich halt mitgefahren. Ich bin dann ein oder zwei Regionalrennen gefahren. Einmal sagte jemand zu mir, ich sollte mal den Stromcup mitfahren, wo die besten Schweizer am Start sind. 1997 bin ich da dann in St. Imier erstmals gefahren. Ich ging am Start voll ab. Ich bin Dritte geworden und war nicht so zufrieden. 1998 war meine erste richtige Stromcup-Saison in der Kategorie Rock.

Und wie ging es da?
Ja, ziemlich gut. Ich weiss meinen Rang in der Gesamtwertung nicht mehr, aber ich hatte viele gute Ergebnisse. 2000 war auch ein gutes Jahr. Ich habe alle Stromcups gewonnen und ich wollte mal mit den Junioren fahren. In Lausanne habe dann auch Anhiebt gewonnen. Da war ich 13 und habe gemerkt, dass ich ziemlich gut bin. Da waren auch noch Bettina Schmid, Nathalie Schneitter und Daniela Graf mit dabei. Wir waren eine gute Gruppe und konnten uns gegenseitig pushen.

Damit ging es richtig los?
Ja. Die Jahre 2001 bis 2004 war es eigentlich immer sehr gut. Ausser im Jahr 2002, da hatte ich zum ersten Mal das Pfeiffersche Drüsenfieber (Eppstein-Barr-Virus). Da musste ich stoppen und konnte das letzte Rennen nicht mehr bestreiten. Da habe ich zwei, drei Monate nichts mehr gemacht und im Dezember wieder angefangen zu trainieren und 2003 und 2004 waren dann wieder ganz gute Jahre für mich. 2004 war das Beste, abgesehen von der WM. Ich war Schweizermeisterin, Europameisterin, Weltcupsiegerin. Meine Krankheit habe ich nicht mehr gespürt.

Wie war damals mit der WM in Les Gets?
Das war sehr schwierig für mich. Auch weil Nathalie gewonnen hat. Ich konnte das nicht akzeptieren. Ich habe sie fast jedes Rennen geschlagen und dann, als ich eigentlich gewinnen musste… Klar, Nathalie hat ein gutes Rennen gefahren, aber ich fand es nicht fair, dass alle Schweizer zu Nathalie gingen. Im Downhill jetzt merke ich, dass es noch viel unfairer ist. Es kann so schnell etwas passieren und die Beste gewinnt nicht. Ich habe viel daraus gelernt, aber damals war es ziemlich hart für mich.

Du warst Fünfte.
Die ganze Woche war ich nervös. Ich konnte nicht essen, nicht verdauen. Ich musste die ganze Zeit auf die Toilette. Alle haben mich ein wenig nervös gemacht. Jeder war sicher, dass ich eine Medaille holen würde. Ich konnte mit der Situation nicht gut umgehen. Das war schon hart. Aber im Jahr 2005 lief es wieder gut. Ich war Vierte an der SM und hatte Top-30-Ergebnisse im Weltcup. Das ist für den jüngsten Jahrgang schon ganz gut.

Dann hast du dich für den Sport entschieden?
2005 hatte ich die Matura-Prüfungen und danach wollte ich mich für ein Jahr voll auf den Sport konzentrieren. Und genau da kamen diese Probleme. Ich hatte zum zweiten Mal das Pfeiffersche Drüsenfieber.

Das ist doch ungewöhnlich, dass es zweimal kommt, oder?
Ja. Das passiert fast nie. Das kann eigentlich nicht mehr ausbrechen, ausser wenn dein Immunsystem ein Problem hat. Mein Arzt hat eine Infektion festgestellt, aber meine Leberwerte waren in Ordnung. Ich war auch nicht so müde, nur im intensiven Bereich, bei Intervallen oder im Rennen, da ging gar nichts. Nach einem normalen Start habe ich mich nicht mehr erholt, meine Beine blieben sauer.

Damals konntet du nicht verstehen, was da los war?
Nein, alles lief zuvor so gut. Ich dachte, was passiert jetzt? Ich wollte in diesem Jahr den Durchbruch schaffen und plötzlich kam so etwas. Es war damals sehr schwierig. Ich hatte keine Schule mehr, konnte nicht fahren. Zu der Zeit habe ich das nicht realisiert, aber rückblickend muss ich sagen, ich war voll scheisse drauf. Ich konnte mich nur auf das Negative konzentrieren. Ich hatte keine Sachen, bei denen ich mich freuen konnte. Dann habe dann im Ride Online-Shop gearbeitet, die Redaktion war ja damals noch in Biel. Thomas Knecht, der auch für Ride gearbeitet hat, war mein Teamchef und hat gesagt, du kannst für uns arbeiten im Online-Shop. Es hat mir geholfen, etwas anderes zu machen, anstatt nur zuhause zu sein. Ich habe dann auch angefangen, nur aus Spass zu biken. Dann hat Thomas Knecht mich gefragt, warum ich nicht einmal die Downhill-SM in Bellwald mitfahre. Oder mit ihm zum Swiss Bike Masters Freeride mitkomme. Ich bin dort gefahren und habe gewonnen. Das war voll cool, wieder mal im Rennfieber zu sein. Das war Massenstart und das kannte ich.

Das war der Einstieg in den Downhill?
Thomas Knecht hat gesagt, du kannst ein Bike von Scott haben, so ein Gambler. Ich dachte, das ist cool, ich kann probieren die SM zu fahren. Ich war dann mal mit Sari Jörgensen in einem Trainingslager. Auch sie motivierte mich. Eine Woche vor der SM habe ich mit Thomas Knecht die Strecke besichtigt. Ich hatte keine Ahnung vom Downhill. Zuvor bin ich nur mit dem Enduro-Bike oder meinem Cross-Country-Bike Downhill gefahren. Man kann viel schneller fahren, aber man kann auch viel schneller stürzen.

Bist du gestürzt?
Ja, ich hatte gleich ein paar Stürze und war schon ganz blau, bevor das Rennen angefangen hat. Aber es war cool. Einige Leute haben gesagt, Emilie kann gewinnen. Da fing es schon wieder an. Ich wollte ja nur Spass haben. Klar, ich war ein bisschen verrückt. Ich wusste nicht, wie man das macht, alleine auf einer Strecke, das kannte ich ja nicht. Es waren ziemlich grosse Sprünge. Ich dachte erst, die springe ich nicht, doch dann bin ich einfach drüber. Ich habe nicht viel Angst und ziemlich viel Mut. Damals war es schon geil, hinter Marielle Saner Zweite zu werden, vor Miriam Ruchti und Daniela Bossard. Ich hatte wieder das Gefühl, etwas erreicht zu haben und Fortschritte machen zu können.

Was bedeutet für dich das Rennfieber?
Die Nervosität war gross, auch im Downhill. Aber danach ist alles anders. Wenn der Wettkampf fertig ist, dann ist der Wettkampf fertig. Im Downhill ist alles entspannter als im Cross-Country. Kurz vor dem Wettkampf ist es schwer, die Nervosität ist gross, aber nur die Zeit vor dem Start. Aber die Tage vorher ist alles viel entspannter.

Ist das die Konzentration für das Rennen?
Ja. Es passieren so viele Sachen in drei Minuten. Du kommst runter und jede Sekunde kommt dir ein anderes Bild. Es ist so ein geiles Gefühl, einen Lauf runter zu bringen. Wenn du das Gefühl hast, dein Bike zu beherrschen, das Adrenalin, wenn du einen Fehler machst oder auf einen Sprung gehst oder nach einer schwierigen Passage. Das war alles neu für mich. Es ist viel intensiver als Cross-Country. Dort ist es körperlich intensiv, aber es gibt auch Phasen, wo du relaxen kannst. Du musst auch auf die anderen achten, taktisch fahren. Im Downhill kannst du nicht taktisch fahren. Du musst immer Vollgas fahren. Das passt einfach besser zu mir.  Ich habe auch gemerkt, dass es meinem Körper nicht gut tut, wenn ich Cross-Country fahre. Mein Körper wollte nicht mehr, dass ich ihn so pushe. Ich hatte damals schon im Sinn, wieder mit dem Cross-Country anzufangen.

Als du mit dem Downhill schon begonnen hast?
Ja, ich war mir nicht sicher, ob ich eine Weltcup-Saison machen möchte. Auch im Downhill war es schwer für mich. Ich war fünf, sechs Kilo leichter als jetzt. Für eine Cross-Country-Fahrerin war ich schon kräftig, aber für Downhill war das nicht genug. Dann habe ich angefangen, mehr auf dem Downhill-Bike zu trainieren. Meine erste Saison war eigentlich auch ganz gut. Viele Stürze, aber das ist normal. Ich musste lernen. Ich wusste nicht, dass man sich langsam an eine Piste herantasten muss und nicht gerade bei der ersten Fahrt los schiessen (lacht).

Ist das dein Naturell, so an die Dinge heran zu gehen?
Ja, das ist schon so. Ich muss jetzt immer noch bremsen bei den ersten Läufen. Ich muss aufpassen, dass ich es nicht übertreibe mit der Schnelligkeit. Die Besten machen es auch so. Wenn Greg Minnaar und Steve Peat das erste Mal runter gehen, dann machen sie das easy. Auch Floriane Pugin macht das so. Ich habe von ihr sehr viel gelernt. Ich bin letztes Jahr gestürzt und habe mich verletzt, das war ein Missgeschick. Stürze passieren, auch Nick Beer ist gestürzt und er stürzt nicht so viel. Sam Hill ist gestürzt. Das gehört zum Sport. Stürzen ist normal. Ob etwas passiert oder nicht, das ist ein wenig Glückssache.

Wie bei den Cross-Country-Fahrern gibt es im Downhill sehr unterschiedliche Persönlichkeiten.
Bei einem Fabien Barel muss immer alles haargenau stimmen, auch bei einem Aaron Gwin. Er ist sehr seriös mit der Linienwahl, Zentimeter für Zentimeter. Dagegen gibt es Fahrer wie ein Danny Hart, die viel intuitiver fahren. Das ist das gute am Downhill, du kannst mit jedem Stil schnell sein. Greg Minnaar fährt ganz anders als Danny Hart, Steve Peat fährt anders als Brook McDonald. Und trotzdem können sie gleich schnell sein.

Und du?
Ich probiere sauber zu fahren, aber ich bin manchmal ein bisschen zu wild. Ich hab eher einen aggressiven Stil. Wenn du eine Floriane siehst, die fährt extrem sauber. Auch wenn sie nicht genau weiss, wo sie fahren soll. Eine Emmeline Ragot dagegen fährt viel wilder. Aber Floriane hat mit ihrem Stil auch weniger Stürze.

Du hast Psychologie studiert?
Ich finde es schon wichtig, etwas nebenbei zu haben für den Kopf. Wenn im Sommer die Prüfungen kommen, dann ist das oft nicht schön. In der Schweiz gibt es an der Universität wenig Verständnis für die Sportler. Uns wird gar nicht geholfen. In Frankreich hat Floriane ein spezielles Programm, separate Prüfungen und so. Ich werde jetzt nach Genf gehen und dort mein Studium im Bereich koginitive Psychologie fortsetzen. Es gibt kein Sportpsychologie-Mastersprogramm in der Schweiz. Ich habe viele Kollegen, die haben den Master und sie müssen trotzdem eine Weiterbildung machen, um darin zu arbeiten. Ich würde gerne als Sportpsychologin arbeiten, aber es reicht auch noch, wenn ich mit 30 Jahren anfange zu arbeiten. Ich verdiene ja noch nichts mit meinem Sport. Floriane hat eine super Saison gefahren, da wird sie etwas mehr bekommen, aber es ist nicht so viel, wie eine Nathalie Schneitter im Cross-Country bekommt. Meine Eltern unterstützen mich, und haben es immer gemacht, sonst könnte ich das nicht machen, studieren und Sport treiben. Ich mache den Sport nicht wegen dem Geld, sondern aus Leidenschaft und ich weiss, dass ich nebenbei noch was anderes machen muss, damit ich nach meiner Sportkarriere nicht hilflos da stehe.

Vor kurzem warst im Schweizer Fernsehen zu sehen in der Sendung «Sport erlebt». Dabei hast du gesagt, es wäre im Downhill einfacher für dich als Frau eine Frau zu lieben als wenn du ein Mann wärst, und du würdest einen Mann lieben. Wie hast du das gemeint?
Das war ein bisschen zu kurz geschnitten. Die Frage war nach der Stimmung im Downhill, ob ich mich da wohler fühle, weil es eine männliche Sportart ist. Es ist eine männliche Sportart, das ist schon klar. Es ist ein bisschen zu krass für Frauen. Vielleicht wie Eishockey. Darum habe ich gesagt, ich habe keine Probleme mit meinem Lebensstil, weil auch meine Familie sehr cool damit umgeht. Ich fühlte mich immer akzeptiert. Im Cross-Country war es ein bisschen schwieriger.

Wirklich?
Es war ein bisschen schwieriger. Jetzt bin ich bald 25 und es ist mir einfach egal, was andere denken. Ich akzeptiere, wenn andere eine andere Meinung haben, aber als 16-Jährige konnte ich das nicht akzeptieren, dass man mich nicht so genommen hat, wie ich bin.

Hast du auch schon kein Geheimnis draus gemacht?
Es liefen viele Sachen, die ich hier nicht erzählen kann (lacht), aber es war schon eine ganz grosse Sache mit anderen Fahrerinnen. Ich hatte geheime Beziehungen. Es war schwierig. Wenn du jemanden liebst, dann willst du es zeigen und nicht verstecken.

Und jetzt?
Hier im Rennzirkus weiss jeder, wer ich bin, was ich für ein Mensch bin und ich fühle mich akzeptiert, vor allem auch in meinem Team. Wir sind alle unterschiedlich, aber wie Familie. Ein Teil meiner Kolleginnen stehen auf Frauen, ein Teil nicht. Meine Team Kollegin Floriane hat einen Freund und ich weiss, sie akzeptiert mich so wie ich bin. Es ist eine unmissverständliche Freundschaft. Ich bin ein sehr offener Mensch, ich rede gerne über meine Emotionen, meine Erfahrungen, mit Leute die ich schätze. Klar, es werden immer wieder Witze gemacht, aber das ist nur Spass. Wenn du ein bisschen anders bist als andere – zu gross, zu klein, zu dick, zu dünn – dann musst du lernen, darüber lachen zu können. Ich habe eine mädchenhafte Seite, aber in dem Sport musst du auch tough sein.

Dass du das im Fernsehen angesprochen hast, war das geplant?
Ja, sie haben das vorher schon gesagt, es wäre interessant das Thema anzusprechen. Es geht in der Sendung mehr um den Mensch als um den Wettkampf. Sie wissen genau, dass Sportler sehr gut über ihren Wettkampf reden können, aber nicht unbedingt über persönliche Sachen. Es war sehr schwierig für mich, das so rüber zu bringen, ohne zu krass zu sein. Es war ein bisschen komisch geschnitten, aber sie wollten es nicht zu lange machen. Es ging bei der Frage um meine Erfahrungen, ob es Diskriminierung gibt im Sport und ich habe eben gesagt, dass es im Downhill einfacher ist, wenn Frauen auf Frauen stehen, als wenn Männer auf Männer stehen. Im Fussball ist genau das Gleiche, da kannst du ein Coming-Out als Mann kaum machen. Es gibt auch Leute, die sagen, es gibt keine Schwule im Fussball – das ist lächerlich.

Hast du gleich zugesagt, als sie dich gefragt haben?
Ich habe mir das lange überlegt, ob ich die Sendung machen möchte. Ich wusste, dass sie das Thema ansprechen werden. Ich dachte, das werden viele Leute sehen. Aber dann dachte ich, vielleicht hilft das, auch jüngeren Leuten. Ich habe auch ein paar Briefe bekommen von anderen Frauen, die sagten, das war mutig. Ich war froh darüber. Viele Leute haben das nur als Teil der Sendung gesehen, aber ich war voll auf das fokussiert, weil das für mich das Schwierigste war.

Weil es auch ein Stück weit existenziell für dich ist?
Nein, nicht unbedingt. Das ist nur ein Teil von mir und ich wollte auch nicht, dass es so aussieht, dass es mir nur darum geht. Ich bin hauptsächlich jemand, der es liebt sein Bike zu fahren und ich bin ein freundlicher Mensch. Ich bin von der Sexualität her vielleicht ein bisschen anders, aber das ist nur ein kleiner Teil. Ich bin froh, dass Leute gemerkt haben, dass Sport die Hauptsache ist. Ich bin aber auch froh, dass ich das gemacht habe, weil es ein wichtiges Thema im Sport ist.

Sendung «sport erlebt» mit Emilie Siegenthaler: www.videoportal.sf.tv/video?id=fb10bc01-8f21-41a2-b418-fdd947d46c55